Al-Waṣiyya: Der Letzte Wille

Der letzte Wille
(Ramaḍān 1444 Hijri / April 2023 greg.)

Ein Testament verleiht eine gewisse Seelenruhe und stellt sicher, dass der Besitz nach dem Ableben nicht zum Streitpunkt für die Erben wird. Diese bescheidene Abhandlung verweist den Leser auf die Wichtigkeit, ein islamisch gültig und gesetzlich anerkanntes Testament zu verfassen.

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Im Namen Allāhs, des Allerbarmers, des Barmherzigen

Pure Unterhaltung und Belustigung gewannen unter Muslimen erstmals unter den Abbasiden gesellschaftliche Anerkennung. Während die Herrscher dem Charme von Reichtum und Überfluss nicht widerstehen konnten, gebar diese Epoche aber auch rechtschaffene Männer, wie Sufyān al-Thaurī, Fuḍail bin ʻIyāḍ, Maʻrūf al-Karkhī, Bishr al-Ḥāfī und Junaid al-Baghdādī (rahmatullāh ʻalayhim ajmaʻīn). Als Reaktion widmeten sie sich dem Lehren des Glaubens, der Abstinenz und der Genügsamkeit. Jemand fragte den Juristen Muḥammad bin Ḥasan al-Shaybānī (rahmatullāh ʻalayh) in diesen Tagen, warum der einflussreiche Imam kein Buch über Zuhd (der Abstinenz) verfasse. Worauf er nur einen einzigen Satz erwiderte:

قد صنفتُ كتاب البيوع

“Ich habe (doch bereits) ein Buch über das Handelsrecht geschrieben.”1

In der prägnanten Antwort steckt eine allerdings für uns enorm relevante Botschaft. Und die lautet: Ohne unsere finanziellen Belange zu berichtigen, kann der Weg zu Allāh nicht erfolgreich beschritten werden. 

Wahre Abstinenz liegt nämlich auch darin, die bezüglich Vermögen und Finanzen offenbarten Anordnungen aufrechtzuerhalten.

Nach dem Ableben

Ein unumgänglicher Teil unseres Daseins ist der Tod. Islamisch wird der Tod als die Trennung zwischen Leib und Seele angesehen.2 Der Sterbende verliert jedoch nicht nur Kontrolle über den Körper, sondern auch über das Eigentum. Letzten Endes wandert das geliebte Hab & Gut nach dem Tod in den Besitz anderer. Dieser Lauf der Dinge ist für jede Menschenseele so unabwendbar, wie die einsetzende Leichenstarre oder die Verwesung ihres Körpers. Was dann mit der Hinterlassenschaft (taraka) geschieht ist keine Willkür, sondern genau vorgeschrieben. Im Prinzip durchläuft diese insgesamt vier Etappen:

[1] Erstens, werden bis hin zum Leichentuch die Kosten des Begräbnis und der Bestattung durch die Hinterlassenschaften gedeckt. (Für die verstorbene Ehefrau zahlt jedoch der hinterbliebene Ehemann.)

[2] Zweitens, ggf. ausstehende Schulden beglichen.

[3] Erst danach wird dem letzten Willen (Waṣiyya) des Verstorbenen (aus ⅓ des übrigen Nachlaßes) nachgekommen.

[4] Der Rest wird letztendlich unter den berechtigten Erben gemäß dem islamischen Erbrecht aufgeteilt.3

Was ist eine Waṣiyya?

Die lexikografische Bedeutung, der das arabische Wort Waṣiyya entstammt, ist eigentlich “Dinge miteinander zu verbinden oder zu übertragen”.4 Deshalb gebraucht der Qur’an diesen Wortstamm unter anderem, um Aufgaben mahnend anzuordnen und ans Herz zu legen.5

وَوَصَّيْنَا الْإِنْسَانَ بِوَالِدَيْهِ حُسْنًا

“Und Wir haben dem Menschen anbefohlen, seine Eltern mit Güte zu behandeln.” [29:8]

إِلَّا الَّذِينَ آمَنُوا وَعَمِلُوا الصَّالِحَاتِ وَتَوَاصَوْا بِالْحَقِّ وَتَوَاصَوْا بِالصَّبْرِ

“außer denjenigen, die glauben und rechtschaffene Werke tun und einander die Wahrheit eindringlich empfehlen und einander die Standhaftigkeit eindringlich empfehlen.” [103:3]

Ein Testament sollte deshalb für die Hinterbliebenen auch eine Ermahnung an den Glauben und die Gehorsamkeit enthalten. Einige Ṣaḥāba begannen ihre Testamente daher mit folgenden Zeilen:6

هذا ما أوصى فلان بن فلان، أوصى أنه يشهد أن لا إله إلا الله وحده لا شريك له وأن محمدًا عبده ورسوله، وأن الساعة آتية لا ريب فيها، وأن الله يبعث مَن في القبور، وأوصى مَن ترك بعده من أهله أن يتقوا الله حق تقاته، وأن يصلحوا ذات بينهم، ويطيعوا الله ورسوله إن كانوا مؤمنين، وأوصاهم بما أوصى به إبراهيم بنيه ويعقوب: يَا بَنِيَّ إِنَّ اللَّهَ اصْطَفَى لَكُمُ الدِّينَ فَلَا تَمُوتُنَّ إِلَّا وَأَنْتُمْ مُسْلِمُونَ

Trotz dieser wörtlichen Bedeutung meint Waṣiyya im fachlichen Kontext eine letztwillige Verfügung – oder schlicht ein Vermächtnis – des Erblassers.

Vermächtnis

Entscheidet man sich jemanden aus freiem Willen und ohne Gegenleistung etwas vom eigenen Besitz zu Lebzeiten zukommen zu lassen, so spricht man im islamrechtlichen Jargon von Hiba (einem Geschenk), und entscheidet man sich etwas erst nach eigenem Ableben zu vermachten wiederum von Waṣiyya.7

Ein Vermächtnis wird zugunsten des Verstorbenen als eine freiwillige Wohltätigkeit angerechnet. Dieses darf Nicht-Erben wie auch belohnende Zwecke (wie zum Beispiel den Bau oder die Renovierung von Moscheen, Waisenheimen oder Brunnen) begünstigen.8 Vollzogen wird es jedoch wie bereits beschrieben erst nachdem die Bestattungskosten sowie offenstehende Schulden beglichen wurden – und höchstens aus einem Drittel des danach übrigen Nachlaßes. Ibn ʻAbbās (raḍiallāhu ʻanhumā) sagte:

لَوْ غَضَّ النَّاسُ إِلَى الرُّبْعِ، لأَنَّ رَسُولَ اللَّهِ ﷺ قَالَ‏ الثُّلُثُ، وَالثُّلُثُ كَثِيرٌ أَوْ كَبِيرٌ ‏

Ich empfehle den Menschen, den Anteil dessen, was sie durch ihren Willen vererben, auf das Viertel (des gesamten Nachlaßes) zu reduzieren, denn Allāhs Gesandter ﷺ sagte: “Ein Drittel, doch selbst ein Drittel ist viel.” [al-Bukhārī]

Der Islam schützt somit den Anspruch der rechtlichen Erben. Sie dürfen weder enterbt, noch durch Universalvermächtnisse grenzenlos benachteiligt oder um ihren Anteil gebracht werden.

إِنَّكَ أَنْ تَدَعَ وَرَثَتَكَ أَغْنِيَاءَ خَيْرٌ مِنْ أَنْ تَدَعَهُمْ عَالَةً يَتَكَفَّفُونَ النَّاسَ فِي أَيْدِيهِمْ ‏

“Es ist besser für dich, deine Erben wohlhabend zu hinterlassen, als sie arm und bettelnd zurückzulassen.” [al-Bukhārī]

Der Status einer Waṣiyya variiert also anhand der Umstände: In der Regel ist ein Vermächtnis nicht Pflicht, sondern für einen Armen mit bedürftigen Erben sogar makrūh und selbst für eine reiche Person mit wohlhabenden Erben lediglich mustaḥab.9

Verpflichtungen und Schulden

Steht allerdings noch eine Verpflichtung gegenüber Allāh oder Mitmenschen aus, obliegt es uns durch eine Waṣiyya dessen Erfüllung nach dem Ableben zu veranlassen.10 Dem Volksmund zuwider, begleicht der Tod diese Schulden nämlich nicht.

Der Jurist Ibn ʻAbdul Barr al-Andalusī (rahmatullāh ʻalayh) hält fest, dass die Mehrheit der Gelehrten sich einig ist, dass eine Waṣiyya (zu tätigen) nicht verpflichtend sei außer für jenen, der verschuldet ist oder in dessen Obhut eine Leihgabe oder ein Pfand weilt.11

Prophetische Überlieferungen, die auf eine Pflicht der Waṣiyya deuten, beziehen sich auf solche Fälle.

مَا حَقُّ امْرِئٍ مُسْلِمٍ لَهُ شَىْءٌ يُوصِي فِيهِ يَبِيتُ ثَلاَثَ لَيَالٍ إِلاَّ وَوَصِيَّتُهُ عِنْدَهُ مَكْتُوبَةٌ‏ 

“Es ziemt sich nicht für einen Muslim, der etwas zu vererben hat, auch nur drei Nächte zu verbringen, ohne dass er sein Testament diesbezüglich aufgeschrieben hat.” [Muslim]

ʻAbdullāh bin ʻUmar (raḍiallāhu ʻanhumā) sagte daraufhin:

مَا مَرَّتْ عَلَىَّ لَيْلَةٌ مُنْذُ سَمِعْتُ رَسُولَ اللَّهِ ﷺ قَالَ ذَلِكَ إِلاَّ وَعِنْدِي وَصِيَّتِي‏

“Seit ich den Gesandten Allāhs ﷺ dies sagen hörte, habe ich keine Nacht mehr verbracht, ohne dass ich mein Testament dabei hatte.”

Der edle Tabiʻī Ḥasan al-Baṣrī (rahmatullāh ʻalayh) sagte:

اَلْمُؤْمِنُ لَا يَأْكُلُ فِيْ كُلِّ بَطْنِهِ، وَلَا تَزَالُ وَصِيَّتُهُ تَحْتَ جَنْبِهِ

“Weder isst ein Gläubiger bis zur Fülle seines Magen noch weicht sein Testament je von seiner Seite.” [ad-Dārimī]

Die Hinterbliebenen stehen nicht in der Pflicht Schulden vom Nachlass zu begleichen, solange die vom Erblasser nicht ausdrücklich genannt wurden.12 Gleichgültig, ob diese Schulden Gottes Rechte, wie ausstehende Fidya für Gebete und Fasten oder noch fällige Zakāt, oder Rechte der Menschen, wie offene Schuldbeträge oder Pfandverträge, sind.

Islamisches Erbrecht

Zwar reicht eine mündliche letztwillige Anordnung aus islamischer Perspektive aus, jedoch ist es – insbesondere in nicht-islamischen Ländern – überaus dringend, diese schriftlich in Form eines anerkannten Testaments zu verfassen.

In Deutschland zum Beispiel besitzt jeder testierfähige Bürger die Freiheit, seine eigenen Vorstellungen in einem Testament zu verwirklichen und rechtswirksam festzulegen, welche Personen in welchem Umfang am eigenen Erbe beteiligt werden sollen. Versäumt man dies, tritt im Todesfall die gesetzliche Erbfolge ein und diese entspricht meist nicht den Vorschriften des islamischen Erbrechts. Fahrlässigkeit in dieser Hinsicht kann somit verheerende Folgen mit sich bringen und eine nicht zu unterschätzende Sünde darstellen.

إِنَّ الرَّجُلَ لَيَعْمَلُ وَالْمَرْأَةُ بِطَاعَةِ اللَّهِ سِتِّينَ سَنَةً ثُمَّ يَحْضُرُهُمَا الْمَوْتُ فَيُضَارَّانِ فِي الْوَصِيَّةِ فَتَجِبُ لَهُمَا النَّارُ

“Wahrlich, ein Mann oder eine Frau handelt sechzig Jahre lang gehorsam zu Allāh, dann präsentiert sich ihnen der Tod, und sie richten so viel Schaden im Testament an, dass das Feuer für sie bestimmt wird.” [at-Tirmidhī]

Wir Muslime sollten mindestens den Wunsch auf eine Erbteilung nach islamischen Vorschriften schriftlich festhalten und ihm durch Beachtung gesetzlicher Vorgaben (ob notarieller oder privatschriftlicher Art) auch rechtswirksame Gültigkeit verleihen.

Zwar empfiehlt es sich, die Erbfolge mit den Bruchteilen bereits schriftlich festzuhalten, um eventuellen Missdeutungen vorzubeugen, jedoch gilt im Prinzip: Ein kurzer Vermerk, dass nach dem Ableben das Vermögen gemäß islamischem Erbrecht aufgeteilt werden soll, ist auch ausreichend. Darüber hinaus kann ein Mufti oder Gelehrter als Vollstrecker festgelegt werden, welcher die Erbfolge und Anteile zum Zeitpunkt der Aufteilung gewissenhaft berechnet und festlegt.

Missstände

Einige Missstände bilden allerdings für die meisten noch immer ein Hindernis, sich mit dieser Thematik ernsthaft auseinanderzusetzen und letztendlich die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

Zum einen herrscht die Vorstellung, dass Erbbelange nur sehr alte und sehr reiche Menschen betreffe. Wer schreibt schon ein Testament in der blühenden Jugend oder in augenscheinlicher Armut?

Solche Gedanken sind von Grund auf irreführend.

[1] Der Tod macht weder Halt vor Jung und noch hält er sich an die Reihenfolge, nach der Menschen auf die Welt kommen. Erben etwa nicht jeden Tag unzählige Eltern von ihrem eigenen Nachwuchs?

[2] Vererbbar sind außerdem nicht nur Wertpapiere, Bargeld, Immobilien oder Fahrzeuge, sondern auch minderwertige Gegenstände und Utensilien.13 Man kann dementsprechend – selbst im Fall, dass der gesamte Eigentum lediglich aus solchen “Bagatell-Gütern” besteht – kaum zu arm sein, um trotzdem für eine korrekte Erbteilung vorzusorgen.

Zum anderen stellt sich die Frage “Was besitze ich überhaupt?” für viele schon als erste Hürde. Der Eigentum des Besitzes ist oftmals unbestimmt oder unklar. Bankkonten, Immobilien, Autos, Möbel, Computer oder andere Hausutensilien werden oft gemeinsam genutzt, ohne dass der eigentliche Eigentümer klar bestimmt ist. Ambiguitäten solcher Art sollten zeitlich aus der Welt geschafft und das Eigentum genau bestimmt werden.

Weitere Vorschriften (Aḥkām)

  • Muslim sein ist weder für den Erblasser (mūṣī) noch den Begünstigten (mūṣā lahu) eine Bedingung. Zwar können Muslime und nicht-Muslime voneinander nicht erben, aber sie können sich gegenseitig Eigentum testamentarisch vermachen.14

  • Mit der Vollstreckung des Testaments sollte ein freier und frommer Muslim beauftragt werden.15

  • Ein Vollstrecker (waṣī) darf zu Lebzeiten des Erblassers diese Verantwortung ablehnen, aber nicht mehr nach seinem Ableben.16

  • Ein Vermächtnis zugunsten sündhafter Zwecke (wie z.B. den Bau von Spielhallen) ist unwirksam.17

  • Dinge zu vermachen (mūṣā bihi), deren Handel und Gebrauch verboten ist (wie z.B. Alkohol oder Schweinefleisch), ist auch nicht gestattet.18

  • Vermächtnisse über ⅓ des Nachlaßes oder zugunsten eines zur Todeszeit rechtlichen Erben werden nur nach ausdrücklicher Zustimmung aller Erben vollzogen.19

  • In nicht-islamischen Ländern, ist das Vermächtnis eines nicht-Muslims zugunsten eines Muslims auch über ⅓ bis hin zu seiner gesamten Hinterlassenschaft wirksam.20

Alle Bedingungen und Vorschriften aufzuzählen, würde den Rahmen dieser kurzen Abhandlung sprengen. Es ist daher angeraten, sich beim Verfassen einer islamisch gültigen und gerichtlich anerkannten Waṣiyya und dessen Formulierung bei den jeweiligen Experten ausführlichen Rat einzuholen.

Tabisch A. Farooqi
(Ramaḍān 1444 Hijri / April 2023 greg.)
Geprüft & genehmigt von
Mufti Dr. Asif Navid (ḥafiẓahullāh)
  1. Fatḥ al-Qadīr, Mabsūṭ al-Sarakhsī
  2. Al-Jāmiʿ li Aḥkām al-Qurʾān
  3. Mufīd al-Wārithīn, Al-Sirājī fī Kitāb al-Mīrāth
  4. Tāj al-ʿArūs
  5. Mufradāt al-Qurʾān
  6. Sunan ad-Dārimī
  7. Badāʾiʿ al-Ṣanāʾiʿ, al-Muḥīṭ al-Burhānī, Al-Mawsūʿat al-Fiqhiyyah
  8. Badāʾiʿ al-Ṣanāʾiʿ
  9. Iʿlā as-Sunan, al-Muḥīṭ al-Burhānī, Al-Fatāwā al-Sirājiyyah
  10. Badāʾiʿ al-Ṣanāʾiʿ
  11. Al-Istidhkār
  12. Radd al-Muḥtār, Tuḥfat al-Fuqahāʾ
  13. Maʾārif al-Qurʾān, Radd al-Muḥtār
  14. al-Hidāyah, Badāʾiʿ al-Ṣanāʾiʿ
  15. Al-Baḥr ar-Rāʾiq
  16. al-Bināyah
  17. Fatḥ al-Qadīr
  18. Badāʾiʿ al-Ṣanāʾiʿ
  19. Iʿlā as-Sunan, Badāʾiʿ al-Ṣanāʾiʿ
  20. al-Bināyah, Badāʾiʿ al-Ṣanāʾiʿ

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