Taʿdīl al-Arkān: Das Innehalten im Gebet

Das Innehalten im Gebet
(Dhu’l-Qaʿda 1441 Hijri / Juni 2020 greg.)

Die zweite Säule des Islām ist im Kern ein Akt purer Unterwerfung und Demut. Und wahre, innere Demut im Herzen sollte sich außerhalb – an den Gliedern – widerspiegeln. Defizite in dieser Hinsicht schmälern den Wert des Gebets. Diese Abhandlung illustriert daher die Wichtigkeit dieser Form der Demut und wie diese im Gebet realisierbar ist.

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Im Namen Allāhs, des Allerbarmers, des Barmherzigen

Wenn man seine Wasserrechnung zahlt, dreht es sich ausschließlich um das Begleichen einer bestimmten Anzahl von Einheiten. Traurigerweise ist unsere Herangehensweise an das Gebet häufig vergleichbar damit. Obwohl dieses alles andere als ein bloßes Punktesystem ist. Das Gebet hat mehr zu bieten.

Ṣalāh (Gebet) bietet dem Gläubigen unter anderem die Gelegenheit, direkt mit seinem Herrn in Verbindung zu treten und mit Ihm zu kommunizieren:

إِنَّنِي أَنَا اللهُ لَا إِلَٰهَ إِلَّا أَنَا فَاعْبُدْنِي وَأَقِمِ الصَّلَاةَ لِذِكْرِي 

“Gewiß, Ich bin Allāh. Es gibt keinen Gott außer Mir. So diene Mir und verrichte das Gebet zu Meinem Gedenken.” [20:14]

Zu den finstersten Zeiten spendet das Gebet dem Gläubigen nötigen Halt und Stärke:

يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُوا اسْتَعِينُوا بِالصَّبْرِ وَالصَّلَاةِ ۚ إِنَّ اللهَ مَعَ الصَّابِرِينَ

“O die ihr glaubt, sucht Hilfe in der Standhaftigkeit und im Gebet! Allāh ist mit den Standhaften.” [2:153]

Und dasselbe Gebet reinigt das Leben des Gläubigen: 

إِنَّ الصَّلَاةَ تَنْهَىٰ عَنِ الْفَحْشَاءِ وَالْمُنكَرِ 

“Gewiß, das Gebet hält davon ab, das Schändliche und das Verwerfliche (zu tun).” [29:45]

Dies sind nur einige der erstaunlichen Funktionen des Gebets. Ḥāfiẓ Ibn Qayyim al-Jauziyya (rahmatullāh ʿalayh) fasst die inneren Facetten faszinierend zusammen:

“Du solltest unbedingt wissen, dass Ṣalāh zweifellos die Ruhe Sphäre für die Verehrer, die Seelenfreude der Monotheisten, der Garten der Anbeter, der Herzen Genuss der Demütigen, die Prüfung der Aufrichtigen und der Maßstab für den Eifer derer ist, die den richtigen Weg verfolgen. Es ist wahrlich eine göttliche Gnade, die Allāh ﷻ Seinen gläubigen Dienern geschenkt hat.”1

Reicht es denn etwa nicht aus zu wissen, dass Allāh ﷻ Seinen Dienern in jedem ihrer Gebete eine Audienz bei Sich, dem unumschränkten Herrscher aller Welten, gewährt?

Innere Dimension

Wenn der Gebetsrufer die Gläubigen zum Gebet ruft, so ruft er sofort danach zum ewigen und kompletten Erfolg. Auch der Qurʾān deutet auf eine besondere Beziehung zwischen dem Gebet & Erfolg:

قَدْ أَفْلَحَ الْمُؤْمِنُونَ الَّذِينَ هُمْ فِي صَلَاتِهِمْ خَاشِعُونَ

“Jene Gläubigen sind zweifellos erfolgreich,die in ihrem Gebet demütig sind.” [23:1-2]

Wir lernen aus diesem Vers aber auch, dass der durch das Gebet zu erlangende Erfolg stark abhängig von (oder proportional zu) seiner Qualität ist. Der hier entscheidende Faktor ist nämlich Khushūʿ. Daher zitiert Imām al-Qurṭubī (rahmatullāh ʿalayh) während der Erörterung dieses Verses auch folgendes Gedicht:

أَلَا فِي الصَّلَاةِ الْخَيْرُ وَالْفَضْلُ أَجْمَعُ        لِأَنَّ بِهَا الْآرَابُ لِلَّهِ تَخْضَعُ

O’ hört, im Gebet weilt alles Gute und jedes Glück,
zu Allāh nämlich demütigt sich in ihm jedes Körperstück.

وَأَوَّلُ فَرْضٍ مِنْ شَرِيعَةِ دِينِنَا                وَآخِرُ مَا يَبْقَى إِذَا الدِّينُ يرفع

Das erste Muss aus den Vorschriften unseres Glauben ist es,
und bleibt, wenn die Religion aufgehoben wird, als Letztes.

فمن قام للتكبير لاقته رَحْمَةٌ               وَكَانَ كَعَبْدٍ بَابَ مَوْلَاهُ يَقْرَعُ

Auf jenen trifft Barmherzigkeit, der sich zum Takbīr erhebt,
er gleicht dem Diener, der klopfend an seines Gebieters Türe steht,

وَصَارَ لِرَبِّ الْعَرْشِ حِينَ صَلَاتِهِ           نَجِيًّا فَيَا طُوبَاهُ لو كان يخشع

und mit dem Herrn des Throns beginnt er in seinem Gebet zu reden.
So gesegnet sei er, vorausgesetzt er ist demütig gewesen.2

Einige Gelehrte definieren Khushūʿ damit, dass es auf den Zustand des Herzen verweist und auf Ehrfurcht und Hingabe deutet. Andere wiederum meinen, dass diese Form der Demut die ruhige Körperhaltung und das Kontrollieren der Blicke bedeutet. Aber richtig ist, dass Khushūʿ beides – die Demut des Herzens wie auch Körpers – umfasst.3 Oder in den Worten Imām al-Qurṭubīs (rahmatullāh ʿalayh): “Khushūʿ hat seinen Platz im Herzen. Ist das Herz jedoch demütig, werden die (restlichen) Körperteile auch demütig. Das Herz ist nämlich ihr König.”4

In anderen Worten die Demut ist solange unvollständig bis sie sich vom Herzen auf den Körper überträgt. Der Prophet ﷺ sah einmal jemanden im Gebet mit dem Bart spielen und verkündete:

لو خشع قلبُ هذا لخشعت جوارحُه

“Wäre das Herz dieser Person demütig, dann wären auch seine Glieder demütig.” [at-Tirmidhī]

Heute fehlt es auch uns beim Beten an echter Demut, als wären unsere Gebete geradezu die Erfüllung dieser Prophezeiung des Gesandten Allāhs ﷺ:

أوَّلُ شيءٍ يرفعُ من هذِهِ الأمَّةِ الخشوعُ حتَّى لا ترى فيها خاشعًا

“Das erste, was aus dieser Umma aufgehoben wird ist Khushūʿ, bis ihr in ihr keinen Demütigen mehr findet.” [aṭ-Ṭabarānī]

Möge Allāh ﷻ uns von den wenigen noch Demütigen im Gebet machen. Ḥāfiẓ Ibn Kathīr (rahmatullāh ʿalayh) schreibt: “Khushūʿ im Gebet kann nur erlangt werden, wenn man sein Herz dafür leert, sich von allem anderen abgewandt ihm allein widmet und es über alles andere Vorrang gibt. Ab dann wird das Gebet für eine Person zur Erholung und Kühle der Augen.”5

Warnung vor falscher Demut

Es sei allerdings davor gewarnt, eine ergebenere Körperhaltung an den Tag zu legen als man eigentlich im Inneren ist. Will man nur anderen imponieren, verfällt man einer heuchlerischen Demut. Sayyidunā ʿUmar (raḍiallāhu ʿanhu) sah einen Jungen mit gesenktem Kopf beten und forderte ihn umgehend auf:

يَا هَذَا! ارْفَعْ رَأْسَكَ؛ فَإِنَّ الْخُشُوعَ لا يَزِيدُ عَلَى مَا فِي الْقَلْبِ
فَمَنْ أَظْهَرَ لِلنَّاسِ خُشُوعًا فَوْقَ مَا فِي قَلْبِهِ؛ فَإِنَّمَا أَظْهَرَ نِفَاقًا عَلَى نِفَاقٍ

“O du, heb deinen Kopf! Denn Khushūʿ ist nichts überdem hinaus was im Herzen steckt. Wer den Menschen Khushūʿ über dem was im Herzen ist präsentiert, präsentiert nichts als Nifāq (Heuchelei) über Nifāq.”6

Deswegen liegt unser Schutz und Wohl darin, uns peinlich genau an die Sunna zu halten und dem Gebet nichts aus unserer Laune hinzuzufügen. Die Gelehrten haben genau geschildert, was im Gebet laut Sunna zu beachten und zu vermeiden ist.

Imām Shāh Waliullāh ad-Dehlawī (rahmatullāh ʿalayh) verschafft uns einen Überblick und zählt insgesamt drei Komponenten auf, aus denen das Ṣalāh im Wesentlichen besteht:

أن يخضع القلبُ عند ملاحظة جلالِ الله وعظمته

[1] “Dass das Herz bei der Vorstellung Allāhs Erhabenheit & Größe demütig ist,

ويُعبّر اللسان عن تلك العظمة وذلك الخضوعِ أفصحَ عبارةٍ

[2] dass die Zunge diese Größe Allāhs und diese eigene Demut auf eloquenteste Weise ausdrückt,

وأن يؤدَّب الجوارح حَسَب الخضوع

[3] und dass die Körperteile – dieser Demut gebührend – diszipliniert sind.”7

Taʿdīl al-Arkān

Behandeln die Rechtsgelehrten diese dritte Komponente, ist auch oft von Taʿdīl al-Arkān die Rede. Dieser Begriff bezeichnet das Innehalten der Körperglieder für mindestens die Dauer einer Tasbīha (Formel der Lobpreisung Allāhs). Dieses Innehalten ist für ein korrekt verrichtetes Gebet, während der Rukūʿ (Verbeugung) und den Sujūd (Niederwerfungen), wie auch beim Erheben aus beiden, notwendig (wājib).8 Speziell während Letzterem sind wir sehr nachlässig. Ohne uns überhaupt wieder gerade aufzurichten fallen wir vom Rukūʿ schlagartig in die Sajda. Und von dieser fast übergangslos, direkt in die zweite.

Wie bedauerlich ist es zwar Zeit und Energie zu investieren, um überhaupt zu beten, aber kaum etwas dadurch zu verdienen. Der überaus barmherzige Gesandte Allāhs ﷺ sah sich drei Mal hintereinander gezwungen, einem Anhänger mit folgenden Worten zu befehlen, sein Gebet zu wiederholen:

ارْجِعْ فَصَلِّ، فَإِنَّكَ لَمْ تُصَلِّ

“Kehre zurück und bete! Denn wahrlich du hast nicht gebetet.”

Danach lehrte er ihn jede Position im Ṣalāh richtig und mit aller Ruhe auszuführen. [al-Bukhārī]

Vielleicht nehmen wir uns ja diese Zurechtweisung unseres Propheten ﷺ zu Herzen:

لَا يَنْظُرُ اللهُ عَزَّ وَجَلَّ إِلَى صَلَاةِ عَبْدٍ لَا يُقِيمُ فِيهَا صُلْبَهُ بَيْنَ رُكُوعِهَا وَسُجُودِهَا

“Allāh ﷻ schaut nicht auf das Gebet eines Dieners, der zwischen dem Rukūʿ und Sujūd des Gebetes seinen Rücken nicht gerade hält.” [Aḥmad]

Auch in der Praxis hat der Gesandte Allāhs ﷺ stets ein vorbildliches Gebet verrichtet.

كَانَ رُكُوعُ النَّبِيِّ ﷺ وَسُجُودُهُ وَإِذَا رَفَعَ رَأْسَهُ مِنَ الرُّكُوعِ وَبَيْنَ السَّجْدَتَيْنِ قَرِيبًا مِنَ السَّوَاءِ

“Die (Dauer des) Rukūʿ des Propheten ﷺ, seiner Sujūd, wenn er seinen Kopf vom Rukūʿ hebte und zwischen beiden Sujūd pflegte fast gleich lang zu sein.” [al-Bukhārī]

Auch in unserem Gebet sollte diesem prophetischen Beispiel Folge leistend zwischen diesen vier Positionen kein zu großer Unterschied herrschen,9 geschweige denn eine von ihnen zu verunglimpfen. Es ist deshalb eine gute Idee zusätzliche Wörter der Lobpreisung oder des Bittgebets aus der Sunna zu lernen und sie in sein Gebet zu integrieren.

Lobpreisungen im Qauma

Die aufrechte Haltung zwischen Rukūʿ und Sajda nennt man Qauma. Zu dieser Position gibt es zwei vorzügliche Lobpreisungen aus der Sunna.

رَبَّـنَا لَكَ الْحَمْدُ حَمْدًا كَثِيرًا طَـيِّـبًا مُبَارَكًا فِيهِ

“O unser Herr! Alle Lobpreisungen sind für Dich, viele gute und gesegnete Lobpreisungen.” [al-Bukhārī]

Der Prophet ﷺ sah im Gebet über dreißig Engel darum wetteifern, obige Formel der Lobpreisung eines Sahabis zuerst niederzuschreiben.

رَبَّنَا لَكَ الْحَمْدُ مِلْءَ السَّمَوَاتِ وَمِلْءَ الأَرْضِ وَمَا بَيْنَهُمَا وَمِلْءَ مَا شِئْتَ مِنْ شَيْءٍ بَعْدُ

“O Allāh, unser Herr, solche Lobpreisung ist für Dich, welche die Himmel, die Erde und den Raum zwischen beiden und das, was Dir über ihnen hinaus gefällt, erfüllt.” [Muslim]

Bittgebet im Jalsa

Jalsa nennt man das gerade Sitzen zwischen zwei Sujūd. Der Gesandte Allāhs ﷺ lehrte, während diesem Sitzen dieses Bittgebet zu lesen.

اللَّهُمَّ اغْفِرْ لِي وَارْحَمْنِي وَعَافِنِي وَاهْدِنِي وَارْزُقْنِي

“O Allāh, vergib mir, erbarme dich meiner, heile mich, leite mich recht und versorge mich.” [Abū Dawūd]

Ein Missverständnis

Viele Anhänger der hanafitischen Rechtsschule unterliegen dem Eindruck, dass man in einem Pflichtgebet während Jalsa und Qauma keine weiteren Bittgebete bzw. Lobpreisungen rezitieren darf oder es zumindest verpönt sei. Diese Auffassung ist jedoch nicht richtig.

Viele klassische wie auch zeitgenössische Gelehrte haben diesen Irrtum aufgeklärt, dass es auch laut dieser Rechtsschule in Pflichtgebeten nicht nur erlaubt ist, sondern sogar bevorzugt werden sollte, um das notwendige Innehalten in beiden Positionen zu gewährleisten.10

Der Muḥaddith seiner Zeit, ʿAllāma Anwar Shāh al-Kashmīrī (rahimahullāh) schrieb beispielsweise dazu:

والأخص فى هذا العصر الذى قلّما يعتنى فيه بالاطمينان فى الجلسة

“Insbesondere in dieser Zeit, in der sehr wenige aufpassen, während der Jalsa tatsächlich innezuhalten(, sollte man das Bittgebet lesen).”11

Möge Allāh ﷻ uns ermöglichen Unachtsamkeiten & Defizite im Bezug auf unser Ṣalāh zu korrigieren.

Tabisch A. Farooqi
(Dhu’l-Qaʿda 1441 Hijrī / Juni 2020 greg.)
Geprüft & genehmigt von
Mufti Dr. Asif Navid (ḥafiẓahullāh)
  1. Asrār aṣ-Ṣalāh
  2. Al-Jāmiʿ li Aḥkām al-Qurʾān
  3. At-Tafsīr al-Kabīr, Al-Jāmiʿ li Aḥkām al-Qurʾān, Anwār at-Tanzīl wa Asrār at-Ta’wīl
  4. Al-Jāmiʿ li Aḥkām al-Qurʾān
  5. Tafsīr al-Qurʾān al-ʿAẓīm
  6. Al-Majālisa wa Jawāhir al-ʿIlm, al-Al-Jāmiʿ li Aḥkām al-Qurʾān
  7. Ḥujjatullāh al-Bāligha
  8. Radd al-Muḥtār
  9. Qauma aur Jalsa mai Iṭminān ka Wujūb (Urdu)
  10. Fatḥ al-Qadīr, Radd al-Muḥtār, Fayḍ al-Bārī
  11. Maʿārif as-Sunan

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