Qaḍāʾ al-Fawāʾit: Das Nachholen versäumter Gebete

Die täglichen fünf Gebete sind an bestimmte Zeiten gebunden. Was geschieht jedoch, wenn man versäumt, diese in ihrem festgelegten Zeitrahmen zu verrichten? Diese Abhandlung ist ein bescheidener Versuch zu erklären, ob, warum, wie und wann versäumte Gebete nachgeholt werden sollten.

Im Namen Allāhs, des Allerbarmers, des Barmherzigen

Bereits vor ihrem weltlichen Dasein schloss Allāh ﷻ als Schöpfer mit allen Nachkommen Adams (alayhis salām) einen einzigartigen Bund, indem Er fragte: “Bin Ich nicht euer Erhalter?” (7:172). Sofort bejahte die gesamte Menschheit die Frage, und bis heute – abertausende Jahre später – zeichnet sich ein wahrer Gläubiger dadurch aus, genau diesen Bund stets zu achten und zu ehren.

Unter den verschiedensten Ausdrucksformen dieses Bundes gebührt dem Ṣalāh (Gebet) zweifellos die allerhöchste Priorität. Denn die unzähligen Vorteile, Segnungen und Weisheiten, die Allāh, der Allweise, im Ṣalāh verborgen hat, bereichern sowohl den temporären Aufenthalt des Gläubigen auf der Erde als auch sein ewiges Leben im Jenseits.

Das Gebet zu seiner Zeit

Der Islām schreibt zu diesem Zweck fünf tägliche Pflichtgebete vor, die selbst auf dem Schlachtfeld zu ihren festgesetzten Zeiten zu verrichten sind. Allāh der Erhabene spricht nämlich im Qurʾān:

إِنَّ الصَّلاةَ كانَت عَلَى المُؤمِنينَ كِتابًا مَوقوتًا
“Das Gebet ist den Gläubigen zu bestimmten Zeiten vorgeschrieben.” (4:103)

Als der Gesandte Allāhs ﷺ einmal befragt wurde, was bei Allāh die beliebteste Tugend sei, antwortete er:

الصَّلاَةُ عَلَى وَقْتِهَا
“Das Gebet zu seiner Zeit.” (al-Bukhārī)

Die Abrechnung jedes Gläubigen vor seinem Schöpfer beginnt laut einer weiteren Überlieferung mit dem Ṣalāh.1 Die Gebete in ihren festgesetzten Zeitrahmen zu vernachlässigen und sie ohne triftigen Grund zu versäumen, stellt daher ein enormes Vergehen dar und widerspricht dem eingegangenen Bund mit Allāh.2

Qaḍāʾ (Nachholen)

Sollte ein Gebet trotzdem verpasst werden, betonte die große Mehrheit aller klassischen Gelehrten, dass dieses Versäumnis nicht nur innig zu bereuen ist, sondern auch nachholen muss. Denn die Erfüllung der Pflichten, die einem Allāh ﷻ oder Seinen Dienern gegenüber obliegen, gehört zu den Bedingungen der Reue. Wer ein Gebet versäumt und dann reumütig ist, ist deshalb verpflichtet, das Fāʾita (versäumte Gebet) nachzuholen, um seine Reue und Bitte um Vergebung zu vervollständigen. Dieses Nachholen nennt man Qaḍāʾ.

Sobald man ein Gebet versäumt, sollte man sich bemühen, dieses schnellstmöglich nachzuholen und es nicht ohne triftigen Grund weiter hinauszögern.3 In diesem Zusammenhang wird folgende Anweisung des Gesandten Allāhs ﷺ authentisch berichtet:

إِذَا رَقَدَ أَحَدُكُمْ عَنِ الصَّلاَةِ أَوْ غَفَلَ عَنْهَا فَلْيُصَلِّهَا إِذَا ذَكَرَهَا فَإِنَّ اللهَ يَقُولُ أَقِمِ الصَّلاَةَ لِذِكْرِي
“Sollte einer von euch das Gebet verschlafen oder es vergessen, so lasst ihn es beten, sobald er sich daran erinnert, denn Allāh spricht: Verrichte das Gebet zu Meinem Gedenken.” (Muslim)

Imām Ibn Shihāb al-Zuhrī (raḥmatullāh ʿalayh) pflegte diesen Vers mit der Bedeutung “wenn du dich erinnerst” zu rezitieren.

Sāḥib al-Tartīb

Als Sāḥib al-Tartīb gilt ein Gläubiger, der seit der Pubertät entweder gar kein Gebet versäumt hat, die gesamten Fawāʾit bereits nachgeholt hat oder dessen Fawāʾit nicht mehr als fünf Gebete (ohne Witr als separates Gebet zu zählen) erreicht haben. Für eine solche Person ist es beim Nachholen notwendig, zwei bestimmte Reihenfolgen einzuhalten:

Erstens: Die Reihenfolge zwischen versäumten und aktuellen Gebeten. Das bedeutet, dass er seine versäumten Gebete noch vor dem nächsten aktuellen Pflichtgebet (welches im Gegensatz zu Qaḍāʾ als Adāʾ bezeichnet wird) verrichten muss. Andernfalls gilt das aktuelle Gebet als unverrichtet (quasi versäumt) und muss nach den Qaḍāʾ-Gebeten erneut verrichtet werden.4

Zweitens: Die Reihenfolge zwischen den Fawāʾit untereinander. Das Gebet, das als erstes versäumt wurde, muss auch als erstes nachgeholt werden. Erst danach das folgt das zweite Gebet, dann das dritte und so weiter. Ansonsten gelten auch diese Gebete nicht als verrichtet.5

Aus 3 Gründen6 entfällt die Pflicht zur Einhaltung dieser Reihenfolgen, und fälschlicherweise verrichtete Gebete müssen nach den Qaḍāʾ-Gebeten nicht mehr wiederholt werden:

[1] Adāʾ in Vergessenheit über ausstehende Fawāʾit zu verrichten.

[2] Die aktuelle Gebetszeit droht zu enden.

[3] Es stehen mehr als fünf Fawāʾit aus. (Bleiben nach einiger Zeit nur noch fünf versäumte Gebete übrig, gilt man, bevor man nicht alle Fawāʾit nachgeholt hat, trotzdem nicht wieder als Sāḥib al-Tartīb.7)

Absichtlich versäumte Gebete

Manche vertreten die isolierte Meinung, dass absichtlich versäumte Gebete nicht nachgeholt werden müssten, sondern ledigliche Reue ausreiche. Ihrer Auffassung nach könne die Pflicht von Qaḍāʾ nur durch das im Ḥadīth erwähnten Verschlafen oder Vergessen entstehen. Diese Ansicht widerspricht der überwältigenden Mehrheit der Rechtsgelehrten aller vier Rechtsschulen. Wenn man bereits durch etwas, das keine Sünde darstellt – nämlich ungewolltes Verschlafen -, verpflichtet ist, das Gebet nachzuholen, dann ist man erst recht dazu verpflichtet, wenn man das Gebet absichtlich versäumt.8

Imām al-Nawawī (raḥmatullāh ʿalayh) bezeichnet diese Meinung (absichtlich versäumte Gebete nachzuholen) sogar als den Konsens der Gelehrten.9 Das Nicht-Nachholen widerspricht zudem dem prophetischen Prinzip

فَدَيْنُ اللهِ أَحَقُّ أَنْ يُقْضَى
“Allāhs Schulden haben vielmehr Anspruch darauf, beglichen zu werden.” (al-Bukhārī)

Imām Ibn al-Ḥajar al-ʿAsqalānī (raḥmatullāh ʿalayh) erläuterte dies folgendermaßen: “Die Person, die das Gebet aus Absicht versäumt, wurde zum Gebet aufgefordert und war verpflichtet, dieses zu verrichten, so dass es (das Gebet) zu einer Schuld für ihn/sie wurde. Und eine Schuld wird nicht erlassen, außer durch deren Begleichung.”10

Darüber hinaus haben die Gefährten des Propheten ﷺ ihre Gebete weder bei der Schlacht von Khandaq noch auf dem Weg zu Banū Qurayḍa verschlafen oder vergessen. Im ersten Fall leitete sie sogar der Prophet ﷺ im Qaḍāʾ-Gebet, und er tadelte oder korrigierte sie nicht, nachdem er von Letzterem erfuhr.11 Detaillierte Ausführungen hierzu finden sich in den Werken klassischer Rechtsgelehrten.

Qaḍāʾ lebenslanger Versäumnisse

Folglich sollte man mit versäumten Gebeten – gleich welcher Art – nicht leichtfertig umgehen. Wer noch Monate oder Jahre an Fawāʾit ausstehen hat, sollte sich aufrichtig bemühen, diese so schnell wie möglich nachzuholen, ohne sich von ihrer großen Anzahl entmutigen zu lassen. Die Gelehrten empfehlen in einem solchen Fall eine einfache Methode, durch die man diese Fawāʾit nach und nach begleichen kann: Man verrichtet zu jedem aktuellen Pflichtgebet ein Qaḍāʾ-Gebet. Zum Beispiel verrichtet man nach jedem Ẓuhr-Gebet innerhalb seiner zugehörigen Zeit (sprich Adāʾ) zusätzlich ein ausstehendes, versäumtes Ẓuhr als Qaḍāʾ.

Dabei sei angemerkt, dass wenn man eines Tages seine bisherige lebenslange Nachlässigkeit gegenüber dem Gebet bereut und den aufrichtigen Entschluss fasst, alle Pflichtgebete in Zukunft in ihrer Zeit zu verrichten, man die bis dahin angehäuften Fawāʾit als qadīma (vorangegangene) bezeichnet. Sollte man danach erneut Gebete versäumen, sollte man die bereits beschriebenen Reihenfolgen aus Vorsicht einhalten, auch wenn man definitionsgemäß nicht als Sāḥib al-Tartīb gilt.6

Verschiedene Überlieferungen, die versprechen, die seit der Pubertät über das gesamte Leben gehäuften Fawāʾit auf einen Schlag zu begleichen, indem man zum Beispiel in der Nacht des letzten Freitags des Ramaḍān ein Gebet mit besonderem Ablauf verrichtet, sind grundlos und frei erfunden.12 Im Internet werden auch einige Abkürzungen vorgeschlagen, nämlich die Sunan-Handlungen bei Gebeten zu überspringen und sie so zu verkürzen. Doch ein solches Gebet wäre ohne vollständigen Segen und die Belohnung gemindert.

Sollte jemand wirklich von der riesigen Menge an versäumten Gebeten überwältigt sein, so wird empfohlen, auf Nawāfil und Sunan ghayr-muʾakkada (sprich: die jeweils vier Einheiten vor dem ʿAṣr und ʿIshāʾ) Gebete zu verzichten und stattdessen regelmäßig so viele Qaḍāʾ verrichten, wie es seine Kraft zulässt.13 In solch einer Lage freiwillige Werke über das Nachholen zu bevorzugen, gleicht ohnehin dem Versuch, 10€ – in erwartungsvoller Hoffnung auf ein Dankeschön – als Geschenk in jene Hände zu drücken, denen man noch Tausende von Euros schuldet.

Was jemanden betrifft, der trotz aller Bemühungen, bevor er seine gesamten Fawāʾit nachzuholen vermag, vom Tod ereilt wird, so ist stark zu hoffen, dass Allāh, der Allerbarmer, ihm angesichts seiner hoffentlich aufrichtigen Reue und fortlaufenden Bemühung die übrige Differenz vergibt.

Verschiedene Aḥkām (Vorschriften)

  • Nur versäumte Pflichtgebete (sprich Farḍ und Wājib) müssen nachgeholt werden. Es gibt kein Qaḍāʾ von Nafl- oder Sunna-Gebeten, außer den zwei Einheiten vor Fajr vom aktuellen Tag (und auch nur bis Zawāl) und einem abgebrochenen Nafl/Sunna-Gebet, da man sich durch seinen Beginn zu seiner Ausführung verpflichtet hat.14
  • Außerhalb der drei Makrūh Zeiten (sprich: die Zeiten bis kurz nach Sonnenaufgang, während des -höchststands & vor -untergang) kann Qaḍāʾ zu jeder Zeit verrichtet werden. Es ist auch nicht notwendig, auf eine bestimmte Zeit zu warten, um zum Beispiel das heute verpasste Maghrib Ṣalāh in der Zeit des morgigen Maghrib zu verrichten.15
  • Zwar sind Qaḍāʾ nach dem Beten des Fajr und ʿAṣr im Gegensatz zu Nawāfil erlaubt, jedoch sollten diese nicht öffentlich (wie zum Beispiel in der Moschee) verrichtet werden. Sein Gebet zu verpassen ist nämlich bereits eine Sünde, und seine Sünde öffentlich kundzutun, ist darüber hinaus eine weitere Sünde.16
  • Für ein gültiges Qaḍāʾ muss man in der Absicht bestimmen, um welches es sich genau handelt. Erinnert man sich nicht mehr an die Anzahl oder Tage der ausstehenden Fawāʾit, kalkuliert man diese seit der Pubertät schätzend und fasst bei jedem die Absicht für das Qaḍāʾ z.B. vom letzten (oder ersten) ausstehenden ʿAṣr Gebet. Auf diese Weise wird das nächste Fāʾita immer zum letzten bzw. ersten unter den nun Ausstehenden.17
  • Verrichtet ein Sāḥib al-Tartīb vor seinen Qaḍāʾ mehrere Adāʾ, bis seine Fawāʾit – aufgrund der Ungültigkeit der Adāʾ bei Missachtung der Reihenfolge (siehe Kapitel) – schließlich sechs ergeben, bleibt er hierdurch kein Sāḥib al-Tartīb mehr und die Pflicht der Reihenfolge entfällt. Sobald diese Pflicht aufgehoben ist, gelten die bis dahin suspendierten Adāʾ nun als verrichtet und müssen nicht mehr wiederholt werden, da sie nur sinnlich als versäumt angerechnet wurden.18
  • Das Qaḍāʾ-Gebet richtet sich in seiner Beschaffenheit nach dem versäumten Gebet: Holt man ein lautes Gebet alleine nach, darf es laut verrichtet werden (und in der Gemeinschaft muss es sogar). Ein als Reisender versäumtes Gebet mit eigentlich vier Einheiten muss auch beim Nachholen halbiert werden.19
  • Sammeln sich mehrere Personen an, die ein und dasselbe Gebet versäumt haben, dürfen sie das Fāʾita in der Gemeinschaft nachholen.16
  • Das Nachholen von Fawāʾit sollte schriftlich festgehalten werden, um im Testament vermerken zu können, dass vom hinterbliebenen Vermögen für jedes noch ausstehende Gebet eine Fidya (Sühne) gezahlt werden soll. Fidya für ein versäumtes Gebet beträgt dieselbe Summe wie die Zakāt al-Fiṭr.20

Bei Fragen konsultiere stets einen Gelehrten des Vertrauens.

Tabisch A. Farooqi
(Shawwāl 1441 Hijrī / Juni 2020 greg.)
Geprüft & genehmigt von
Mufti Dr. Asif Navid (ḥafiẓahullāh)

 

  1. Jāmiʿa at-Tirmidhī
  2. Ṣaḥīḥ Muslim, Al-Baḥr ar-Rāʾiq
  3. Iʿlā as-Sunan
  4. al-Muḥīṭ al-Burhānī
  5. Al-Baḥr ar-Rāʾiq
  6. Al-Baḥr ar-Rāʾiq, Radd al-Muḥtār
  7. Fatḥ al-Qadīr
  8. Ikmāl al-Muʿallim
  9. Al-Minhāj
  10. Fatḥ al-Bārī
  11. Al-Istidhkār
  12. Al-ʿUjāla an-Nāfiʿa, al-Mawḍūʿāt al-Kubrā, al-Fawāʾid al-Majmūʿa
  13. Marāqi al-Falāḥ, Radd al-Muḥtār
  14. Al-Baḥr ar-Rāʾiq, Badāʾiʿ al-Ṣanāʾiʿ
  15. Marāqi al-Falāḥ, al-Baḥr ar-Rāʾiq
  16. Radd al-Muḥtār
  17. Radd al-Muḥtār, al-Muḥīṭ al-Burhānī
  18. Radd al-Muḥtār, Fatḥ al-Qadīr
  19. Al-Fatāwā al-Hindiyyah, Radd al-Muḥtār
  20. Badāʾiʿ al-Ṣanāʾiʿ, Radd al-Muḥtār