Der Glaube an Qadr (die Vorherbestimmung) ist eine grundlegende ‘Aqidah im Islam, ohne welchen der Glaube unvollständig bleibt. Jedoch ist Taqdir eine heikle und schwerverständliche Angelegenheit. Die verschiedensten Fragen kommen in den Sinn mancher. Deshalb wird hier beabsichtigt diese Angelegenheit anhand Qur’an, Sunnah und rationaler Argumente auf eine einfache Weise zu erklären.
„Qadr“ und „Qadha’“
In der Terminologie der Shari’ah ist mit Qadr (Taqdir) „Allah ta’ala’s schon immer vorhandenes Wissen“ gemeint, „welches alles im Universum umfasst“. In anderen Worten: Seit Ewigkeit umfasst Allah ta’ala sein Wissen alles was bisher geschah, gerade geschieht oder noch geschehen wird. Das heißt, alle Dinge und Begebenheiten, und deren Zustand, deren Dauer und deren gesamten Details, gleichgültig, ob diese Dinge oder Begebenheiten gut oder schlecht, klein oder groß, körperlich (physisch) oder körperlos, sichtbar oder verborgen sind. Dieses göttliche Wissen nennt man Taqdir, aber in Qur’an und Sunnah wird anstelle des Wortes Taqdir häufiger das Wort Qadr gebraucht.
Mit Qadha’ hingegen ist „Allah ta’ala’s Entscheiden, Befehlen und Erschaffen, gemäß diesem schon immer vorhandenem Wissen„ gemeint. Des öfteren wird anstelle des Begriffes „Qadr“ der Begriff „Qadha’“, sowie umgekehrt anstelle des Begriffes „Qadha’“ der Begriff „Qadr“ verwendet.
Der Glaube an Taqdir
Das bedeutet, dass wir daran glauben, dass Allah ta’ala absolutes Wissen darüber verfügt, was seit Ewigkeiten im Universum geschieht, was jetzt geschieht und was in Zukunft geschehen wird, sei es winzig oder gewaltig, sinnlich oder körperlich, sichtbar oder verborgen, gut oder schlecht. Im edlen Qur’an heißt es:
وَكُلَّ شَيْءٍ أحْصَيْنَاهُ فِي إِمَامٍ مُبِينٍ
„Und alle Dinge haben Wir verzeichnet in einem deutlichen Buch (sprich Lawh al-Mahfuz).“ [36:12]
Außerdem heißt es im Qur’an:
وَعِندَهُ مَفَاتِحُ الْغَيْبِ لاَ يَعْلَمُهَا إِلاَّ هُوَ وَيَعْلَمُ مَا فِي الْبَرِّ وَالْبَحْرِ وَمَا تَسْقُطُ مِن وَرَقَةٍ إِلاَّ يَعْلَمُهَا
وَلاَ حَبَّةٍ فِي ظُلُمَاتِ الأَرْضِ وَلاَ رَطْبٍ وَلاَ يَابِسٍ إِلاَّ فِي كِتَابٍ مُّبِينٍ
„Bei Ihm (sprich: in Seiner Kontrolle) sind die Schlüssel des Verborgenen; keiner kennt sie als Er allein. Und Er weiß, was auf dem Lande ist und was im Meer. Und nicht ein Blatt fällt (vom Baum) nieder, ohne daß Er es weiß; und kein Körnchen ist in der Erde Dunkel und nichts Grünes und nichts Dürres, das nicht in einem deutlichen Buch (wörtlich Lawh al-Mahfuz) wäre.“ [6:59]
Der Glaube an Qadha’
Dies bedeutet, dass wir daran glauben, dass Allah ta’ala der Schöpfer aller Ereignisse ist, die Seit Ewigkeit im Universum geschehen sind, geschehen oder geschehen werden, sei diese gut oder schlecht, klein oder groß, sinnlich oder körperlich, sichtbar oder verborgen. Allah ta’ala erschafft jede Sache und Begebenheit durch seinen Willen und seine vollkommene Macht – seinem schon immer vorhandenem Wissen entsprechend – zu festgesetzter Zeit, in festgesetzter Menge und auf festgesetzte Art. Ohne seinen Willen kann sich kein Atom bewegen; sogar des Menschen gute oder schlechte Taten, Absichten oder Gedanken entstehen nur, wenn Allah ta’ala sie erschafft. Im edlen Qur’an offenbart Allah ta’ala dies an mehreren Stellen mit äußerster Deutlichkeit. Einige Verse diesbezüglich lauten wie folgt:
إِنَّا كُلَّ شَيْءٍ خَلَقْنَاهُ بِقَدَرٍ
„Wir haben ein jegliches Ding nach Maß geschaffen.“ [54:49]
قَدْ جَعَلَ اللَّهُ لِكُلِّ شَيْءٍ قَدْرًا
„Für alles hat Allah ein Maß bestimmt.“ [65:3]
وَإِن مِّن شَيْءٍ إِلاَّ عِندَنَا خَزَائِنُهُ وَمَا نُنَزِّلُهُ إِلاَّ بِقَدَرٍ مَّعْلُومٍ
„Und es gibt kein Ding, von dem Wir nicht Schätze hätten;
aber Wir senden es nur nach bestimmtem Maß hinab.“ [15:21]
وَاللَّهُ خَلَقَكُمْ وَمَا تَعْمَلُونَ
„Obwohl Allah euch erschaffen hat und das Werk eurer Hände?“ [37:96]
اللَّهُ خَالِقُ كُلِّ شَيْءٍ
„Allah ist der Schöpfer aller Dinge.“ [39:62]
هَلْ مِنْ خَالِقٍ غَيْرُ اللَّهِ
„Gibt es einen Schöpfer außer Allah?“ [35:3]
قُل لاَّ أَمْلِكُ لِنَفْسِي نَفْعًا وَلاَ ضَرًّا إِلاَّ مَا شَاء اللّهُ
„Sprich: „Ich habe nicht die Macht, mir selbst zu nützen oder zu schaden,
es sei denn wie Allah will.“ [7:188]
Der freie Wille des Menschen?
Zweifellos, wurde dem Menschen eine Art des freien Willens gegeben eine Handlung zu tun oder nicht zu tun. Diese spezielle Art des freien Willen und der Macht wurde in dem letzten Vers der Surah Baqarah „Kasb“ genannt. Allah ta’ala spricht:
لَهَا مَا كَسَبَتْ وَعَلَيْهَا مَا اكْتَسَبَتْ
„Ihm wird, was er verdient, und über ihn kommt, was er gesündigt.“ [2:286]
Aufgrund dieses Kasbs wurde der Mensch verpflichtet den Befehlen und Anweisungen der Religion zu folgen. In anderen Worten, einige Taten werden ihm geboten und einige andere Taten verboten. Aufgrund dessen verdient der Mensch Lohn und Strafe, dass er für gute Taten belohnt und für schlechte Taten bestraft wird.
Bis hierhin kann man zusammenfassen, dass der Schöpfer von menschlichen Handlungen Allah ta’ala ist und Kasib (der Kasb macht) der Diener ist, und dass Lohn und Strafe nicht für das Entstehen dieser Handlung ist, sondern für Kasb, welches im Vermögen des Menschen steckt.
Die Realität von Kasb
Steht nur noch die Frage aus, was die Realität und Natur von Kasb und sein Anteil ist?
Nun, die Antwort darauf ist, dass wir anhand unseres Instinkts und Verstandes wissen und auch von Beweisen der Qur’an und Sunnah erwiesen ist, dass zwischen dem Entstehen eines Wunsches in unserem Herzen eine Handlung zu tun und dem Entstehen dieser Handlung, Kasb – eine Art der Macht – ist, welche „ghayr-mustaqil“ ist. Diese benutzen wir ungebunden um eine Handlung zu tun oder nicht zu tun.
Und mit „ghayr-mustaqil“ ist gemeint, dass diese Macht auch Allah ta’ala allein uns gegeben hat, und von Ihm erschaffen wurde, und diese Macht ist sicherlich ein Mittel unsere Handlungen entstehen zu lassen, aber nicht ausreichend. Das heißt, dass keiner unserer Handlungen alleine aus unserem Kasb entstehen kann so lange Allah Ta’ala sie nicht entstehen lässt. Darüber hinaus kennen wir nichts über die Realität des Kasb, es wurde auch in Qur’an und Sunnah nicht berichtet und wir sind auch nicht verpflichtet diese zu kennen. Weder wird uns im Grab diese Frage gestellt noch im Jenseits, was die Realität und Natur von Kasb sei und was sein Anteil sei.
Weil die Realität von Kasb zu kennen außerhalb des Erfassungsvermögens des menschlichen Verstandes ist, hat Rasulullah ﷺ verboten sich in Diskussionen über die Angelegenheit von Taqdir zu vertiefen.
Jedoch um es dem Verstand nahe zu bringen kann man Kasb wie folgt genauer erläutern: Der Wunsch einer Handlung entsteht auf unwillkürliche Weise durch Allah ta’ala’s Erschaffen in unseren Herzen, wie im Qur’an geschildert wird:
وَمَا تَشَاؤُونَ إِلَّا أَن يَشَاء اللَّهُ
„Dieweil ihr nicht anders wollt, als wie Allah will.“ [81:29]
Aufgrund dieses Wunsches denkt der Diener darüber nach diese Tat entweder zu tun oder nicht zu tun, und nachdem er beide Seiten gegeneinander abgewägt hat, bevorzugt er die Tat zu tun. Dann fasst er eine Absicht, woraufhin er seine Körperteile in Bewegung bringt, so dass eine Handlung entsteht. Von allen Dingen, die es von diesem Wunsch bis zum Entstehen der Handlung gibt, ist der Mensch nicht der Schöpfer eines einzigen dieser. Vielmehr ist er nicht einmal vollständig in Kenntnis darüber, welche Teile, welche Organe, und welche Kräfte seines Körpers vom Wunsch bis hin zur Existenz der Handlung gearbeitet haben. Oder wie groß ihr Anteil an dieser Arbeit war. Aber jeder Mensch weiß instinktiv und von sich selbst aus, dass zwischen dem Wunsch und der Existenz der Handlung eine solche Phase sicherlich kommt, wo er sich freiwillig dazwischen entscheidet die Tat zu tun oder nicht zu tun. Genau diese Wahl nennt man Kasb, auf welche Lohn und Strafe beruht. In anderen Worten für die Wahl von guten Taten erhält der Diener Belohnung und für die Wahl von schlechten Handlungen verdient er Bestrafung.
Es bleibt nur noch unklar, dass wenn Kasb solch eine kleine und ghayr-mustaqil Macht ist, welche an unseren Handlungen schon auf irgendeine Weise Anteil besitzt, aber um einer unserer Handlungen entstehen zu lassen nicht ausreichend ist, sondern um eine Handlung entstehen zu lassen viele weitere Dinge und Kräfte vorrausgesetzt sind, welche wir weder erschaffen haben noch vollständig kennen, warum verdienen wir dann aufgrund von Kasb Strafe und Lohn?
Die Antwort darauf lautet, dass in den Gerichten der gesamten Welt, in welchen Leuten für Verbrechen Strafen verhängt werden, doch genau dasselbe geschieht. Von alljenen Dingen und Kräften die sich am Verbrechen beteiligen, hat die [eigentliche] Tat des Verbrechers einen sehr kleinen Teil, trotzdem gilt es dem idealen Gesetz, Verstand und Weisheit entsprechend ihn zu bestrafen.
Ein Beispiel
Lasst mich das anhand eines Beispiels veranschaulichen: Ich habe eine mit Kugeln geladene Pistole bekommen, auf den Abzug gedrückt und die Kugel ist los geschossen, wodurch die Person gegenüber verstorben ist. Alle Dinge und alle sichtbaren sowie verborgenen Kräfte, die am Schiessen dieser Kugel gearbeitet haben, haben eine systematische Ablaufskette vor dem Abdrücken sowie auch danach. Und keines davon habe ich erschaffen, weder habe ich die Pistole erschaffen, noch habe ich das Metall aus dem die Pistole gemacht wurde erschaffen, noch habe ich das Schiesspulver erschaffen, noch habe ich die Hand womit ich die Pistole halte erschaffen. Aber ich werde nur deswegen als Täter des Mordes befunden, weil ich in dieser langen Kette [von Abläufen] eine geringe Bewegung meines Fingers verübt habe, ohne die diese Person in diesem Moment durch die Pistole nicht gestorben wäre. Den, der die Pistole oder das Schiesspulver gemacht hat, verurteilt man nicht als Mörder.
Die gesamten Gerichte würden mich als Mörder verurteilen. Gleichfalls auch wenn Kasb eine sehr geringe Macht ist, und auch noch ghayr-mustaqil, weil es allerdings an dem Ausüben der Handlung doch sicherlich soviel Anteil hat, dass ohne [dieses Kasb] die Handlung nicht durch mich und meine Entscheidung entstanden wäre, erhalte ich für meinen guten Kasb Lohn und für schlechten Strafe.
Die Zusammenfassung ist, dass die ‘Aqidah der Ahlu-Sunnah w’al-Jama’ah zwischen „Qudrat al-Kamilah“ und „Jabar al-Mahdh“ liegt, d.h. der Mensch ist weder Schöpfer seiner eigenen Handlungen, noch über alles ermächtigt. Dieses wurde schon zuvor aus Versen des Qur’an und anhand von rationalen Beweisen belegt. Aber der Mensch ist bei seinen Handlungen auch nicht völlig gezwungen, sondern nur bis zu einem bestimmten Maß und bis zu einem bestimmten Maß autoritär. Diese ‘Aqidah ist zwischen der Übertreibung und Untertreibung, also der Unausgewogenheit der zwei bekannten Sekten „Jabariyya“ & „Qadariyya“ der Pfad der Mäßigkeit.
[Auszug aus “Masalah Taqdir ka Aasaan Hal” von Mufti Muhammad Rafi Uthmani, möge Allah ihm gnädig sein]